Kritik an Gutachten des Sozialministeriumsservice

Sabine Groß ist an Multipler Sklerose erkrankt, in ihrer Mobilität stark eingeschränkt und auf ihr Auto angewiesen. Um Erleichterungen beim Parken in Anspruch nehmen zu können, beantragte die Sozialarbeiterin vier Mal beim Sozialministeriumservice die Eintragung der „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ in ihren Behindertenausweis. Die Anträge wurden jedoch immer wieder abgelehnt. Auf Initiative von Volksanwalt Mag. Bernhard Achitz wurde der Fall in der Sendung Bürgeranwalt diskutiert. Anfang Februar gab der Bundesverwaltungsgerichtshof der Klägerin nun recht. Nun leitet die Volksanwaltschaft ein amtswegiges Prüfverfahren ein. Dabei wird überprüft, nach welchen Richtlinien medizinische Gutachterinnen und Gutachter des Sozialministeriumsservice ihre Vorschläge erstellen, wie viel sie bezahlt bekommen und wie viel Zeit sie sich nehmen.

 

Univ. Prof. Dr. Fritz Leutmezer in der ORF 2-Sendung Bürgeranwalt vom 26.9.2020, Screenshot, Copyright: ORF

Univ. Prof. Dr. Fritz Leutmezer in der ORF 2-Sendung Bürgeranwalt vom 26.9.2020, Screenshot, Copyright: ORF

Sabine Groß hat sich an die Volksanwaltschaft gewandt. Die 48-jährige ist seit 27 Jahren im Sozialbereich tätig und kümmert sich im Rahmen der Obdachlosenhilfe um jene Menschen, mit denen es das Schicksal weniger gut gemeint hat. Die Sozialarbeiterin hat 2016 die Diagnose Multiple Sklerose bekommen und ist deswegen in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt.

Wenn die Sozialarbeiterin aus ihrem Auto aussteigt, kommt sie schnell an ihre körperlichen Grenzen. Im Jahr 2016 wurde ihr von Ärzten bestätigt, was sie schon länger vermutet hatte: Sie ist an Multipler Sklerose erkrankt. Schon kleine Fußwege sind für die alleinerziehende Mutter eine Herausforderung. Ihren Gehstock hat Sabine Groß dabei stets dabei. Sie übt ihren Beruf sehr gerne aus. Dass sie mobil ist und ihrer Arbeit nachgehen kann, verdankt sie vor allem ihrem Auto.

Nach der Diagnose erkundigte sich Frau Groß nach Abstellmöglichkeiten für ihr Auto und mietete zwei Parkplätze in einer Garage. Die Kosten dafür belaufen sich auf monatlich etwa 300,00 Euro.

Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel

Wenn im Behindertenpass die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel eingetragen ist oder ein Ausweis gemäß § 29b Straßenverkehrsordnung 1960  bzw. eine Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer wegen Behinderung vorliegt, ist die Unzumutbarkeit der Benützung des öffentlichen Verkehrsmittels gegeben.

Sabine Groß wandte sich an das Sozialministeriumsservice und beantragte, die Eintragung über die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zu bestätigen, damit sie von der Entrichtung der Parkgebühr befreit wird. Das ärztliche Begutachtungsverfahren ergab jedoch, dass die Voraussetzungen für eine Zusatzeintragung nicht vorliegen, worauf die Sozialarbeiterin einen negativen Bescheid erhielt, den sie beeinspruchte.

Die neuerliche Ablehnung wurde mit folgendem Text begründet: „Die (…) ärztliche Begutachtung durch den ärztlichen Dienst des Sozialministeriumservice hat ergeben, dass die Voraussetzungen für die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass nicht vorliegen. (…) Die Ergebnisse der ärztlichen Begutachtung wurden als schlüssig anerkannt und in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grunde gelegt.

„Teilhabe ist für mich nur mehr mit dem Auto möglich. Ich schaffe es den Weg ins Büro nur mehr mit dem Auto – ebenso alle anderen, auch privaten Termine. Die Berechtigung, Behindertenparkplätze benützen zu dürfen, wäre eine große Erleichterung. Ich habe bereits vier Mal darum angesucht, bin aber jedes Mal abgelehnt worden. Bei den Untersuchungen wird die Dynamik meiner Erkrankung kaum berücksichtigt.“
Sabine Groß

Kritik an Vorgehensweise der Behörde

Univ. Prof. Dr. Fritz Leutmezer, Präsident der Österreichischen Multiple Sklerose Gesellschaft und Vizepräsident der Multiple Sklerose Gesellschaft Wien, kritisierte in der Sendung Bürgeranwalt vom 26. September 2020 die Vorgehensweise der Behörde:

„Bei Multipler Sklerose ist es leider so, dass es eine Reihe von Beschwerden gibt, die für Außenstehende nicht zu erkennen sind bzw. nur zu erkennen sind, wenn sie Erfahrung mit der Erkrankung haben. Dazu gehört vor allem die Müdigkeit, die bei MS sehr häufig auftritt und chronisch ist. Das heißt, die Patienten stehen zwar auf, sind aktiv, aber nach zwei bis drei Stunden kommt es zu einer totalen Erschöpfung. Sie müssen sich ein bis zwei Stunden niederlegen, wenn sie im Alltag weiter funktionieren wollen. Das ist für Außenstehende oft schwer verständlich. Es gibt auch viele Gutachter, die das nicht kennen und dann sagen ‚Müde bin ich auch. Das ist etwas, das wir alle haben, das ist kein Symptom einer Erkrankung.'“
Univ. Prof. Dr. Fritz Leutmezer in der Sendung Bürgeranwalt vom 26. September 2020

Der Neurologe versteht nicht, warum Frau Groß die gewünschte Hilfestellung verwehrt wurde: „Ich ärgere mich wahrscheinlich mehr – oder zumindest genauso – wie die Patientin, denn sie ist auch ein sehr gutes Beispiel: Sie könnte schließlich schon lange in Berufsunfähigkeitspension aufgrund ihrer Behinderung gehen. Das würde man ihr auch zugestehen. Sie möchte das aber nicht, sie möchte weiter arbeiten. Sie zahlt weiterhin ins Sozialsystem ein – und dann verwehrt man ihr eine aus meiner Sicht kleine Hilfe, um diese Berufstätigkeit zu erhalten. Das ist für mich völlig unverständlich.“

Fehler im System

Sabine Groß kann nicht nachvollziehen, dass ein innerhalb von zehn Minuten erstelltes Gutachten „über ganz viele Dinge“ entscheide und hinterfragt, weshalb es keine Bewertung der Erkrankung an sich und deren Dynamik gibt. Schließlich handle es sich bei Multipler Sklerose um eine progressive Erkrankung. Deshalb sei auch nicht gesagt, wenn sie heute in einem guten Zustand sei, dass dies morgen genauso der Fall sei.

Bundesverwaltungsgericht gab Klägerin recht

Anfang Februar 2021 folgte das Bundesverwaltungsgericht der Argumentation der Volksanwaltschaft: Wegen der ständigen Verschlechterungen ihres Gesundheitszustands wird Sabine Groß nun ein Parkausweis ausgestellt.

Vom Sozialministerium fordert Volksanwalt Achitz, dass Entscheidungsspielräume künftig gleich zugunsten der Betroffenen genützt werden, und dass den Gutachterinnen und Gutachtern entsprechende neue Richtlinien vorgelegt werden

Volksanwaltschaft prüft, wie GutachterInnen des Sozialministeriumservice arbeiten

Die Österreichische Multiple Sklerose Gesellschaft macht – ebenso wie die Volksanwaltschaft – seit Jahren die Erfahrung, dass Gutachten oft nur aufgrund der Aktenlage erstellt werden. Immer wieder langen Beschwerden ein, da Menschen mit Gutachterinnen und Gutachtern des Sozialministeriumservice unzufrieden sind und sehr lange auf Termine warten müssen. „Und dann sind die Begutachtungen oft sehr kurz und oberflächlich. Außerdem sind die Gutachter oft nicht sehr freundlich“, berichtet Achitz. Die Volksanwaltschaft leitet nun ein amtswegiges Prüfverfahren ein.

„Wir schauen uns an, nach welchen Richtlinien die medizinischen GutachterInnen ihre Vorschläge erstellen, wie viel sie bezahlt bekommen und wie viel Zeit sie sich nehmen.“
Volksanwalt Mag. Bernhard Achitz