Menschen mit Behinderungen als Opfer der Corona-Krise

„Menschen mit Behinderungen, die bereits vor der Krise in vielen Belangen strukturell benachteiligt waren, dürfen nicht dazu herangezogen werden, die Kosten der Pandemie zu tragen“, erklärte Behindertenanwalt Dr. Hansjörg Hofer bei einem Pressegespräch am 7. April 2021, dem Weltgesundheitstag. Die Behindertenanwaltschaft fordert einen österreichweit einheitlichen, dem individuellen Risiko im Falle einer Covid-Infektion angemessenen, barrierefreien Zugang von Menschen mit Behinderungen zu nachweislich wirksamen und sicheren Impfungen, unabhängig von ihrer Wohnform und Betreuungssituation.

Dr. Hansjörg Hofer, Anwalt für Menschen mit behinderungen, Foto: HBA

Dr. Hansjörg Hofer, Anwalt für Gleichbehandlungsfragen für Menschen mit Behinderungen

„Menschen mit Behinderungen, die bereits vor der Krise in vielen Belangen strukturell benachteiligt waren, dürfen nicht dazu herangezogen werden, die Kosten der Pandemie zu tragen.“
Dr. Hansjörg Hofer

Die Corona-Krise hält die Welt in Atem und dominiert weitgehend die politische Diskussion und öffentliche Berichterstattung. Die etwa 1,4 Millionen Menschen mit Behinderungen in Österreich sind besonders von dieser Krise, die gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Aspekte hat, betroffen. Laut dem Dr. Hansjörg Hofer tragen sie häufig ein erhöhtes gesundheitliches Risiko und werden oft durch zur Pandemiebekämpfung getroffene Schutzmaßnahme in weit höherem Maß in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt als andere Menschen. Es sei anzunehmen, dass sie, zumindest auf längere Sicht, auch ökonomisch stärker von der Krise betroffen sein werden oder es bereits sind.

Schlüssiges und ganzheitliches Konzept wird vermisst

Zwar würden vereinzelt Maßnahmen getroffen, um Menschen mit Behinderungen unter bestmöglicher Gewährleistung ihrer persönlichen Freiheit in der Corona-Krise zu schützen sowie deren Folgen abzufedern, ein planmäßiges Vorgehen und ein schlüssiges und ganzheitliches Konzept fehle dabei aber, krisierte Behindertenanwalt Hofer.

Die Tatsache, dass in vielen Belangen, die Menschen mit Behinderungen in der Pandemie betreffen, in allen neun Bundesländern unterschiedliche Regelungen zur Anwendung kommen, erscheine Hofer dabei kontraproduktiv. So seien beispielsweise die Bedingungen, unter denen Menschen mit Behinderungen persönliche Assistenz in Anspruch nehmen können, von Bundesland zu Bundesland höchst unterschiedlich und dazu davon abhängig, ob diese in einem Arbeitskontext oder in der Freizeit benötigt wird. Ein Umzug in ein anderes Bundesland önne unter bestimmten Umständen sogar zum gänzlichen Verlust der bisherigen Finanzierung für die in der Freizeit benötigte Assistenz führen.

Zeitnaher Zugang zu Covid-Impfungen für Menschen mit Behinderungen

Hofer zufolge werde bei vielen Maßnahmen, die aufgrund der Corona-Pandemie getroffen werden, die Situation von Menschen mit Behinderungen nicht oder nicht in ausreichendem berücksichtigt, was im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention stehe. In Artikel 11 der Konvention verpflichten sich die Vertragsstaaten, den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen in Gefahrensituationen zu gewährleisten und dazu alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen.

Entscheidend für den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen sei laut dem Behindertenanwalt in der derzeitigen Phase der Pandemie vor allem der zeitnahe Zugang zu COVID-Impfungen. Österreich habe  in der Vergangenheit, verglichen mit anderen EU-Mitgliedstaaten, nicht die höchstmögliche Zahl an verfügbaren Impfstoffen abgerufen. Die Priorisierung des Zugangs zu den derzeit knappen Impfstoffen erfolge auf Basis von Empfehlungen des Nationalen Impfgremiums, in dem die organisierten Menschen mit Behinderungen aktuell nicht vertreten sind. Der bestehende Covid-19-Impfplan sei zwar eine verbindliche Leitlinie für alle impfenden Stellen im Österreich, dennoch lasse dieser Spielräume für Schwerpunksetzungen offen. So würden in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Impfstrategien bestehen, die mitunter schwerwiegenden Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Impfungen für Menschen mit Behinderungen haben.

„Bedingt durch die Zuständigkeit der Länder bestehen unterschiedliche Anmeldemodalitäten für Impfungen. Die Anmeldeverfahren sind nicht in allen Bundesländern durchgängig barrierefrei gestaltet, sodass Menschen mit Behinderungen womöglich schon bei einer Anmeldung zu einer Impfung mitunter vor erheblichen Hindernissen  stehen. Beim Zugang zu Impfungen, die für Menschen mit Behinderungen lebenswichtig sein können, darf es keine Barrieren geben!“
Dr. Hansjörg Hofer

Der Zugang zu Impfungen und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen hänge Hofer zufolge in vielen Bundesländern wesentlich davon ab, welche Wohnform diese in Anspruch nehmen und wie sie ihre allenfalls benötigte Betreuung organisieren. So seien beispielsweise Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, oft prioritär geimpft worden, während Menschen mit Behinderungen, die mit Unterstützung im eigenen Haushalt leben, also eine selbstbestimmtere Wohnform wählen konnten, nicht mit der gleichen Priorität bedacht worden seien. Hier hätten Daten des Sozialministeriumservice über Inhaberinnen und Inhaber von Behindertenpässen herangezogen werden können, um Menschen mit Behinderungen mit erhöhten Gesundheitsrisiken, die in Privathaushalten leben, gezielt zu Impfungen einzuladen, betonte Hofer.

Die Behindertenanwaltschaft fordert einen österreichweit einheitlichen, dem individuellen Risiko im Falle einer Covid-Infektion angemessenen, barrierefreien Zugang von Menschen mit Behinderungen zu nachweislich wirksamen und sicheren Impfungen, unabhängig von ihrer Wohnform und Betreuungssituation.

Erhöhte Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen

Es bestehtedie begründete Hoffnung, dass die Corona-Pandemie in absehbarerer Zeit unter Kontrolle gebracht werden kann, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise würden jedoch voraussichtlich noch lange Zeit andauern. In der Pandemie seien auch viele Menschen mit Behinderungen arbeitslos geworden. Durch die erhöhte Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen bereits vor der Krise sei es evident, dass diese, verglichen mit der Gesamtbevölkerung, erheblich schwerer Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Es bedürfe aus diesem Grund gezielter Fördermaßnahmen, um die aufgrund der Pandemie arbeitslosen Menschen mit Behinderungen wieder in Beschäftigung zu bringen und gefährdete Arbeitsplätze zu erhalten, erklärte Hofer. Diese müssten, um wirksam zu sein, rechtzeitig eingeführt werden und bedarfsgerecht budgetiert sein. Nur so könnten Menschen mit Behinderungen durch Einsatz ihrer Arbeitskraft, ihrer Talente und Fähigkeiten einen Beitrag zur Überwindung der Wirtschaftskrise leisten.

Aufrechterhaltung der Leistungen für Menschen mit Behinderungen

Hilfsmittel und Unterstützungsangebote, die der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen dienen, würden fast ausschließlich aus öffentlichen Geldern finanziert, erklärte der Jurist. Viele Menschen mit Behinderungen seien mangels Unterstützung und Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt auch zur Deckung ihres Lebensbedarfs auf Unterstützung seitens der öffentlichen Hand angewiesen. Es sei anzunehmen, dass das aufgrund der Bekämpfung der (insbesondere wirtschaftliche) Pandemiefolgen entstandene und weiter entstehende Budgetdefizit zukünftig zu Einsparungen führen wird. Dabei müsse ein Augenmerk daraufgelegt werden, dass Leistungen für Menschen mit Behinderungen zumindest im bisherigen Umfang erhalten bleiben, betonte der Behindertenanwalt abschließend.

Quelle: Menschen mit Behinderungen als Opfer der Corona-Krise, Pressegespräch der Behindertenanwaltschaft vom 7. April 2021